Heute sehe ich Lene das letzte Mal.
Mein Mann will wieder nicht mit.
Heute fällt es mir schwerer, das anzunehmen.
Es ist die letzte Gelegenheit, sie zu sehen.
Versteht er das denn nicht?
Ich wünsche mir so sehr, dass er mitkommt. Und wenn nicht, um Lene zu sehen, dann vielleicht wenigstens wegen mir, weil es mir so wichtig ist.
Um für mich da zu sein. Um das als Familie zu erleben.
Ich versuche, ihn zu überreden. Er will nicht. Die Zeit im Krankenhaus hat ihm gereicht.
Aber da hat er sie doch auch kaum gesehen! Was, wenn er das eines Tages bereut?
Ich fühle mich verantwortlich.
Seine Mutter ist nach Hause gefahren. Einer muss ja auf Blümchen aufpassen, sagt er.
Da fände sich bestimmt auch jemand anderes, sage ich.
Er bleibt dabei, dass er nicht will, fährt mich aber zu ihr.
Während ich bei Lene bin, will er etwas mit Blümchen erledigen. Ich weiß nicht mehr was.
Einkaufen?
Auf dem Rückweg will er mich dann wieder abholen.
Der Bestatter ist gerade noch beschäftigt, jemand anderes empfängt mich und bittet mich, an einem Tisch Platz zu nehmen.
Kann ich nicht gleich zu Lene?
Ist doch egal, wer mich zur ihr bringt.
Während ich warte, sehe ich mich um. Da ist eine Küchenzeile.
Ganz viele Blumen liegen da.
Wer da wohl gestorben ist?
Das wird eine ganz andere Bestattung als bei uns, denke ich.
Es wird klein. Direkt am Grab.
Nur Lisa, meine Schwiegermutter, meine Schwester und die Hebammen werden dabei sein.
Unsere Nachbarin, um nach Blümchen zu sehen.
Die Rednerin und der Bestatter.
Eine halbe Stunde wird es wohl nur dauern.
Damit fühlen wir uns wohl.
Nach kurzer Zeit kommt der Bestatter. Er kommt aus einem anderen Raum und setzt sich zu mir.
Kann ich nicht gleich zu Lene?
Es fällt mir schwer, das auszuhalten.
Andererseits sehe ich ihm an, dass er gerade wo ganz anders herkommt, wo er sich total eingelassen hatte und den Moment braucht.
Er begleitet mich in den Raum, in dem ich Lene auch nach dem Krankenhaus gebracht hatte.
Ihr Sarg steht auf dem Sofa. Ein Beistelltisch ist mit Tüchern bedeckt, Kerzen brennen, ein Blatt Papier liegt da.
Ob ich sie nochmal halten will?
Nein, das ist vorbei, sage ich.
Sie sieht noch aus wie am Dienstag, denke ich.
Sie hat sich doch noch nicht so verändert, sagt der Bestatter.
Ich muss schmunzeln.
Er sagt, er hat etwas vorbereitet. Ich soll ihn holen, wenn ich so weit bin.
Dann lässt er mich alleine.
Ich bin ganz unruhig. Ich sehe sie das letzte Mal.
Wie verhält man sich da, wenn man sein Kind das letzte Mal sieht?
Ich weine. Ich will nicht, dass das das letzte Mal ist.
Ich will sie nicht gehen lassen. Ich streichle sie. Nehme ihre Hand. Küsse sie.
Ich kann das nicht.
Wie soll ich nur ohne sie weiterleben?
Das kann doch jetzt nicht das letzte Mal sein, dass ich sie sehe!
Ich weine.
Ich will das alles nicht.
Ich will sie mitnehmen. Ich will, dass sie lebt.
Sie kann doch nicht einfach gestorben sein!
Was ist das für eine Zumutung, dass ich jetzt gleich gehen muss und sie nie wiedersehe!
Sie ist doch meine Tochter!
Das ist so falsch!
Wieso sterben Babys überhaupt!
Ich will sie mit nach Hause nehmen!
Lene!
Ich lasse meine Tränen laufen und beruhige mich irgendwann.
Werde ruhig.
Etwas in mir wird ruhig.
Ich hole den Bestatter.
Ich weiß noch, dass ich zu ihm sage, dass Lene mich erdet.
An den Zusammenhang erinnere ich mich nicht.
Meine liebe Lene, du gibst mir schwere Aufgaben, die schwersten Aufgaben der Liebe, die schwersten Aufgaben einer Mutter, doch weil meine Liebe so rein und groß ist, so groß wie mein Schmerz,
ist diese Liebe deckungsgleich mit deiner Aufgabe,
sodass ich dich genau auf dieser Schwelle der Gleichheit gehen lassen kann,
deinen besonderen Weg annehmen kann und irgendwann verstehen.
Du bist hier gewesen, leibhaftig, ich konnte dich fühlen und anschauen,
dir zulächeln, mich an dir erfreuen, die Spur der Liebe ist gelegt.
Du bist meine Tochter, auf alle Zeit und gehörst zu mir in deiner Weise der Vollständigkeit.
Ich konnte nicht für dich sorgen, war doch alles dafür in mir angelegt,
aber dein Weg und deine Ausrichtung zum Licht haben selbst für sich gesorgt.
Du bist umsorgt und umgeben von der unendlichen Weite und des Friedens
Und von denen, die aus deiner Linie des Blutes vor dir kamen und schon in der Freiheit dieser Ewigkeit sind.
So will ich diesem Augenblick jetzt volle Geltung geben,
allen Mut auf der Schwelle der Liebe nehmen und deinen kleinen zierlichen Körper loslassen.
Denn du selbst bist nun nicht mehr hier, deine Seele ist frei und gleichzeitig geborgen.
Möge auch uns dieser Frieden, den du hast und ausgestrahlt hast, erreichen,
mögen wir offen sein für diese Zeichen,
um auch ohne dich in der Freude und Beherztheit unseres Lebens zu sein.
Ich habe das ja aus Ihrer Perspektive geschrieben, sagt er, selbst überrascht.
Das sei so aus ihm rausgeflossen, ergänzt er.
Ich werde geflutet mit Gefühlen.
Ich bin so bewegt.
Ich fühle mich gesehen.
Mit allem, was in mir da ist.
Als Mama, die ihr Kind gehen lassen muss.
Im Krankenhaus wurde ich nicht wie eine Mutter behandelt.
Zuhause spüre ich Druck, wieder zu funktionieren.
Ich habe den Eindruck, überall her Urteile und Erwartungen zu spüren. Unter Beobachtung zu stehen.
Jeder weiß am besten, was ich brauche, was ich machen muss, wie ich mich fühlen soll.
Und auf einmal, völlig unerwartet, werde ich gesehen.
Darin, was mir abverlangt wird, dass ich mein Kind verloren habe.
Wie sehr das weh tut.
Dass ich trotzdem auch so viel Mutterliebe in mir trage.
Dass es auch Momente des Friedens gibt.
Das Gefühl, dass ich vielleicht auch irgendwann damit sein kann, dass sie gegangen ist.
Dass alles in mir angelegt war, für sie zu sorgen.
Mein Körper schreit so nach ihr. Versteht gar nicht, wo sie ist.
Auch, dass sie trotzdem meine Tochter ist.
Nicht nur die Totgeburt, der Sachverhalt.
Sie ist trotzdem meine Tochter!
Ein Baby.
Und wieviel Mut es kostet, sie jetzt gleich hier zurücklassen zu müssen.
Wie sehr ich mich dazu überwinden muss.
Und gleichzeitig verstehe ich nicht, wie es möglich ist, dass jemand das spüren kann. Und dann auch noch aufschreibt!
Ich bin doch viel zu kompliziert.
Habe viel zu hohe Erwartungen.
Sich in mich einzufühlen geht doch gar nicht, weil ich so schwierig bin.
Und das war es dann.
Es ist vorbei.
Das war das Ende.
Jetzt muss ich Lene zurücklassen.
Ich zögere.
Kann ich nicht doch noch hierbleiben?
Ich will noch hierbleiben. Für immer.
Dann atme ich tief durch und gehe.
Es müssen noch Kleinigkeiten wegen Montag besprochen werden.
Ich gehe mit ins Büro.
Der Bestatter gibt mir ihre Geburtsurkunde.
Tag der Geburt: 13.04.2019, tot geboren.
Wie absurd.
Ich kann mich nicht lösen.
Ich will das Bestattungsinstitut nicht verlassen.
Lene.
Versuchen Sie mal zu hören, was sie Ihnen sagt, sagt der Bestatter.
Ja… im Moment bin ich noch sehr übermächtig, entgegne ich.
Sie wollte ja zu Ihnen kommen, aber es ging halt nicht, antwortet er.
Dann sehe ich, dass mein Mann auf den Parkplatz fährt.
Am Nachmittag bin ich total erschöpft.
Was für ein Kraftakt.
Am Abend bringt Lisa uns Abendessen. Ihr Mann hat ein Restaurant.
Blümchen hatte sich Pommes ausgesucht.
Sie isst ein paar, sagt, sie ist satt und geht auf dem Balkon spielen.
Ich esse ihre Pommes. Ich habe das erste Mal seit der Geburt Hunger.
Als sie wieder reinkommt und sieht, dass die Pommes leer sind, flippt sie aus.
Sie bricht völlig zusammen.
Ihre Pommes! Sie wollte sie noch essen!
Sie wütet und tobt. Weint und schreit.
Lässt alles raus, was raus muss.
Ich entschuldige mich. Ich sage ihr, dass ich dachte, dass sie sie nicht mehr essen will.
Es tut mir leid, dass ich nicht extra nochmal gefragt habe, ob ich sie essen kann.
Normalerweise mache ich das, weil ich ihre Reaktion kenne.
Aber ich bin durch den Wind.
Lene. Die Geburt. Die Gesamtsituation. Ich habe einfach nicht daran gedacht.
Sie beruhigt sich nicht.
Ich entschuldige mich nochmal. Schlage vor, zu schauen, ob wir in der Gefriertruhe noch Pommes haben.
Ein kurzer Moment der Hoffnung.
Keine Pommes da.
Und der Zusammenbruch geht weiter.
Ich versuche, sie zu trösten, aber es gelingt mir nicht.
Und dann wird es mir zu viel. Ich habe keine Kraft mehr, sie in diesem Moment zu begleiten und sage schroff: Blümchen, es tut mir echt leid. Aber ich kann es jetzt auch nicht ändern. Hör auf zu weinen, es gibt jetzt halt keine Pommes mehr!
Dann schreit mein Mann los: Hättest du sie ihr halt nicht weggefressen!
Ich erstarre.
Trete innerlich zurück. Einige Schritte.
Versuche es nicht persönlich zu nehmen. Als Ausdruck seines Stresses anzusehen.
Reiß dich zusammen, sage ich.
Er ist doch der Einzige, der sich hier seit zwei Wochen zusammenreißt! schreit er.
Dann hör doch auf, dich zusammenzureißen, dann würde es dir vielleicht auch besser gehen! schreie ich zurück.
Er weiß, dass meine Mutter früher rumgeschrien hat: Meine Kinder fressen mir immer alles weg!
Er weiß, wie schwierig Essen für mich ist. Dass ich nie einfach etwas esse ohne vorher zu fragen, ob es noch jemand anderes will.
Dass ich unglücklich bin mit meinem Gewicht. Und gerade versuche, gnädiger mit mir zu sein, was mein Essverhalten und mein Gewicht angeht. Wieviel Anstrengung mich das kostet.
Er weiß das.
Er macht Blümchen aus Kartoffeln selbst ein paar Pommes.
Ist nett zu ihr, verachtet mich.
Nach dem Essen bringe ich Blümchen ins Bett.
Ich stehe nicht mehr auf.
Dass er ausflippt kann ich verstehen. Die unterdrückte Trauer und der Schock finden ihren Weg nach draußen.
Was er gesagt hat, verzeihe ich ihm nicht.
Das war gemein.
Entschuldigen wird er sich nicht.
Ich schlucke es runter und versuche am nächsten Tag wieder Normalität herzustellen.
Die Beerdigung unseres Kindes steht bevor. Ich habe keine Kraft für Konflikte, bei denen ich sowieso nur verlieren kann.
Ich mache mir Grey’s Anatomy an und spüre sowas wie Erlösung.
Kann den Tag hinter mir lassen und abtauchen.
Ganz schnell schlafe ich ein.
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