Chloe Lucia

Chloe Lucia



Am Donnerstag, den 18.11.2021 waren mein Freund und ich auf dem Weg zum Frauenarzt. Alles war gut – ich war in der 35. SSW und während der gesamten Schwangerschaft über hatte ich keine Probleme mehr mit meinen Depressionen. Ich war mir sicher, dass unsere Tochter Chloe Lucia demnächst auf die Welt kommen möchte. Insgeheim hoffte ich das, denn mir tat schon alles weh und schlafen konnte ich auch kaum noch. Außerdem wollte ich meine Kleine unbedingt in den Armen halten. Zwei Tage zuvor war ich noch bei meiner Hebamme zur Akupunktur aufgrund der Rücken- und Rippenschmerzen. Sie hatte mir schon gesagt, dass mein Bauch wirklich sehr hart sei und sie vermute, dass das Kind noch nicht richtig liegt... Es könnte auf einen Kaiserschnitt rauslaufen.

Es war ungewöhnlich viel los in der Praxis und Covid machte uns natürlich einen Strich durch die Rechnung. Ich durfte nur allein hinein, weshalb mein Freund beschloss, noch ein paar Dinge zu erledigen. Ich sollte mich dann nach dem Termin melden.

Um die Wartezeit bis zum Termin zu überbrücken, wurde ich zuerst ans CTG angeschlossen. Irgendwie war es mühseliger als sonst, Chloe bewegte sich ständig weg, es war nicht möglich ein gutes Signal aufzubauen. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch völlig entspannt – mein Bauch verformt sich ständig, sie ist halt sehr aktiv. Auch die Arzthelferin meinte, manchmal „verstecken“ sich die Kleinen gern mal, der Arzt kann sicher gleich sehen wie sie liegt und dann probieren wir es nochmal.

Wenige Minuten später holte mich mein Doktor – ein Freund meiner Familie. Ich wurde herzlich begrüßt, zuerst das übliche Gespräch, ein paar Notizen und dann bitte auf die Liege zum Ultraschall. „Meine Hebamme meinte, sie liegt wahrscheinlich nicht richtig...“ habe ich beiläufig erwähnt und schaute erwartungsvoll auf den Bildschirm. Gleich sehe ich meine kleine Schönheit wieder.

Doch Chloe lag völlig richtig mit dem Köpfchen nach unten, aber mein Arzt war so still. Er sagte meinen Namen sehr ernst und in meiner naiven Art dachte ich noch, er würde mir so etwas sagen, wie „Es ist doch ein Junge“.

Kein Herzschlag.

Tunnelblick. Das ist ein Traum. Ich bin weggetreten oder während der Fahrt eingeschlafen und träume.

„Nein“ und „das ist nicht wahr“ war alles was ich sagen konnte. Wir haben alle möglichen Tests gemacht, auf die Ernährung und Bewegung geachtet, sie war kerngesund. Wie kann das sein? Das ist nicht möglich. Mein Arzt prüfte mehrmals den Ultraschall. Er sagte Dinge, die ich nicht mehr hörte. Es MUSS ein Albtraum sein.

Er fragte mich, ob mein Freund in der Nähe sei. Ich rief ihn an. Als er den Anruf entgegen nahm brachte ich nur ein „Komm sofort hier her“ raus.
Wenige Minuten später betrat er das Zimmer, sah mich, hörte meinen Arzt und ihn verließ die Kraft. Er knickte ein, hielt sich fest und sah mich an. So viel Schmerz. Ich fühlte mich schuldig. Er nahm ich in den Arm.

An alles was dann passierte, erinnere ich mich nur noch unscharf. Der Doktor prüfte abermals auf unseren Wunsch den Ultraschall. Es gab ein Telefonat mit der Klinik, mein Freund rief erst meine und dann seine Eltern an. Wenige Minuten später kontaktierte mein Onkel meinen Arzt und sagte ihm, dass er bald in der Praxis sei und uns nach Hause fahren würde.

Uns stand zur Wahl entweder sofort in die Klinik zu fahren, dann dürfte mein Freund aber aufgrund der Covid-Vorschriften noch nicht bei mir bleiben. Oder wir würden am nächsten Tag zusammen in

die Klinik fahren, mit einem negativen Testergebnis und gepackten Taschen. Wir entschieden uns für zweiteres. Auch nur eine Sekunde ohne ihn zu sein kam nicht in Frage.

Ich funktionierte nur noch. Taub, kalt und leer aber ich funktionierte. Auf dem Heimweg schrieb ich meinen besten Freunden und meiner Therapeutin. Zuhause warteten meine Eltern und mein bester Freund war auf dem Weg. Meine Therapeutin rief an, mein bester Freund redete mir gut zu und mein Freund und meine Mutter packten unsere Sachen. Was ich für „Kindsbewegungen“ hielt, waren Wehen – sollten die Wehen also in der Nacht stärker werden, bekam ich einen Plan was ich tun sollte und wer für mich da war, um mir zu helfen.

Die Nacht war die Hölle. Ständig bewegte bzw. verkrampfte mein Bauch und lies wieder locker.

Wieso quälst du mich weiterhin so? Was hab‘ ich getan, um diese Strafe verdient zu haben? Ist der Verlust nicht schon genug?!

Der nächste Morgen und der Weg zur Klinik – meine Eltern fuhren uns, mein Freund und ich saßen auf der Rückbank des Wagens und weinten still. Am Empfang versuchte ich wie immer stark und tapfer zu sein. „Ich bin hier, um meine Tochter auf die Welt zu bringen...“ fing ich an. Dann brach ich ab – keine Luft, weiche Beine. Wieder Tränen. Meine Löwenmutter übernahm sofort und erklärte kurzerhand die Situation. Man sagte uns, wie ich zur Station kommen würde – nichts davon konnte ich mir merken. Ich fing an zu schluchzen und man brachte mich zu einer Sitzgelegenheit, bis ich mich beruhigte. Die Dame vom Empfang nahm mich fest in den Arm und begleitete mich in den Kreissaal und zu den Hebammen.

Ich wurde bereits erwartet. Mein Frauenarzt hatte während seiner Nachtschicht im Klinikum alles geklärt und vorbereitet. Nach wenigen Minuten war auch mein Freund mit unserer Tasche bei mir und eine Ärztin führte sehr einfühlsam einige Untersuchungen und den Covid-Test durch. Aufgrund der Corona-Vorschriften war es nicht einfach, dass mein Freund bei mir bleiben konnte. Doch hier versuchte jeder alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit wir nicht getrennt werden.

Kurz darauf durften wir unser Zimmer beziehen und ich bekam die erste Tablette, um die Wehen einzuleiten. In etwa zu diesem Zeitpunkt erkundigte sich die Ärztin nach einem/einer Sternenkindfotografen/in. Es folgten 40 Stunden bestehend aus Warten und Weinen, da die Schmerzmittel gegen meine Rückenschmerzen immer wieder die Wehen abschwächten und ich sie letztendlich gar nicht mehr spürte.

Am Samstagabend fragte ich die Hebamme, ob ich ein Bad nehmen könnte. Vielleicht würde das helfen, und selbst wenn nicht, könnte ich damit meinen Rücken etwas entlasten. Nach über einer Stunde im warmen Wasser und keiner einzigen Wehe gingen wir wieder zurück zum Zimmer und legten uns zurück ins Bett.

Ein Ziehen im Bauch. Nochmal. Stärker. Schmerzen. Mein Freund stoppte die Zeit. Wir klingelten der Hebamme und sagten Bescheid. Es war fast Mitternacht und es ging los.
Ab diesem Zeitpunkt verging für mich alles wie im Zeitraffer und wie auf Drogen. Schmerzmittel, Untersuchung, PDA – 04:15 Uhr morgens - mein Freund hielt stark meine Hand und meine Hebamme bereitete alles vor.

Schmerzen. Solche Schmerzen wie noch nie. Ich schrie. Niemals werde ich das vergessen. Ich konnte nicht mehr. Doch meine Hebamme redete mir weiterhin ermutigend zu. Ich muss das jetzt schaffen.

04:45 Uhr. Sie ist da. Ich will sie halten. Die Hebamme legt sie mir in den Arm. Sie ist so schön. Chloe ist so wunderschön. Still und dennoch das Schönste was ich je gesehen habe. Dunkle Haare auf ihrem Kopf, eine süße kleine Stupsnase, filigrane kleine Finger und große Füße. Sie sieht aus, als würde sie schlafen. Chloe Lucia kam am Sonntag, den 21.11.2021 mit 1910 Gramm und einer Größe von 43 cm auf die Welt.

Während ich sie hielt und versuchte jeden Millimeter in meinem Gedächtnis zu speichern machte mein Freund Fotos von uns. Er war völlig fertig. In unserer Beziehung bin ich oft diejenige, die stark für uns beide ist. Er hatte mir vorab schon gebeichtet, dass er nicht weiß, ob er es schafft sie zu berühren, ob er es überhaupt schafft, durchgehend bei der Geburt bei mir zu bleiben. Nicht böswillig, er ist nur einfach so extrem sensibel – und ich verstand das. Aber er ist geblieben, durchgehend, stark und ich war so stolz auf ihn und bin es immer noch.

Ich streichelte und studierte Chloes kleine süßen Händchen. Ich war so erschöpft und wir wurden informiert, dass die Sternenfotografin in der Klinik angekommen war. Die Hebamme fragte uns, ob sie Chloe etwas anziehen dürfe. Als wir das bejahten nahm sie unseren kleinen Schatz ganz zärtlich und sprach mit ihr, wie mit einem lebendigen Baby. Ich war so erstaunt und so gerührt und lauschte ihrer Stimme. Mein Freund fragte nach Fuß- und Handabdrücken und eine weitere Dame vom Kreissaal betrat den Raum. Ich hatte zwar nur geringe Verletzungen, aber auch diese mussten versorgt werden. Nähen da unten? Oh Gott, ... Na, dann aber schnell, denn meine Zeit mit Chloe ist begrenzt.

Die Hebamme kam wieder mit meinem Engel, eingewickelt in warmen gelben Handtüchern, in dem zu großen weißen Strampler mit Teddys darauf, den wir ihr mitgebracht haben und einer weißen Mütze – die Mütze, die mein Freund damals als Baby getragen hatte. Die Ärmel waren gekrempelt und ließen sie noch kleiner wirken, aber umso niedlicher. Mein Freund sah sie verliebt an. „Sie sieht aus wie du.“

Es klopfte an die Tür, die Fotografin war da. Sie wirkte ruhig, herzlich und freundlich. Kein bisschen distanziert. Sie stellte sich vor, begrüßte uns, sagte ein paar Takte über sich und über unsere süße kleine Chloe. Sie hatte eine längere Anfahrt gehabt. Ich war irgendwie sprachlos und so dankbar für diesen Einsatz. Sie hatte Perlenengel dabei und erzählte uns, dass manche Fotografen kleine Sternen- , Schmetterlings- oder Engelspaare zu den Terminen mitbrachten. Ein Teil des Paares würde beim Kind und der andere bei den Eltern bleiben. Eine süße Idee. Ich entschied mich für einen roten und einen blauen Engel – Rot war ich, blau war sie. Chloe war für mich immer schon ein blauer Schmetterling gewesen. Wir behielten den Blauen Engel, Chloe bekam den Roten.

Mein Kopf war völlig matschig nach allem was in den letzten Stunden und Tagen passiert war, also schlug uns die Fotografin vor erst einmal ein paar Aufnahmen von Chloe zu machen, dann Details und daraufhin etwas mit uns. Wir stimmten zu. Wieder wurde mit unserer Tochter gesprochen. Rührend und erschreckend, wie diese Menschen geradezu selbstverständlich mit Sternenkindern umgehen. Für mich ein Segen, ein bisschen Normalität in diesem furchtbaren und abstrakten Albtraum. Aber wie viel Übung hat es gebraucht, um sich diese Professionalität anzueignen? Eine Frage, die ich mir bis jetzt immer noch täglich stelle.

Mein Mäuschen wurde mir zurückgebracht. Die Fotografin fragte mich, ob ich Bilder mit meinem Kind haben möchte. Natürlich wollte ich. Doch wie? Ich wollte nicht, dass sie gestellt aussehen würden. Es sollte echt sein! Wie bescheuert, darüber sollte ich mir doch jetzt wirklich keine Gedanken machen. Ich überlegte und sah meine Tochter an. So wunderschön. Die Fotografin knipste. Einfach weniger denken und mehr fühlen. Ich küsste mein Kind, streichelte sie und legte meinen Kopf neben sie ab. Drückte sie an mich.

Die Fotografin fragte, ob wir ein gemeinsames Bild zu dritt haben möchte. Ich sah meinen Freund an. Ich wusste, wie schwer das für ihn war. Diese Verlustangst. Er sah mich an. Wie immer wollte ich ihm sagen, dass er das nicht muss. Doch er nickte, beugte sich zu uns und nahm Chloe Lucias Hand in seine. Er schluchzte leise und ich legte meine Hand dazu. Das ist unser Familienfoto. Unser erstes und einziges mit ihr.

Die Zeit verging und die Fotografin packte. Sie und mein Freund tauschten die Kontakte aus, besprachen den weiteren Ablauf und wir verabschiedeten uns. Es war mittlerweile Morgen. Meine Hebamme kam, um sich fürs erste in den Feierabend zu verabschieden, ihre Nachtschicht war vorbei. Sie sah müde aus, dennoch herzlich wie immer. Ich verabschiedete mich und bedanke mich nochmal für alles was sie getan hatte. Eine weitere Hebamme, die wir bereits kannten, begrüßte uns. Sie würde sich jetzt wieder um uns kümmern. So kompetente, sensible, freundliche, routinierte und talentierte junge Frauen. Während all dieser Zeit hätte ich in der Klinik keine bessere Betreuung haben können.

Durch die schlaflose Nacht verlor ich völlig das Gespür für Zeit und Raum. Uns wurde ans Herz gelegt im Zimmer einen Happen zu essen, uns etwas auszuruhen und ich wollte mich dringend ein wenig frisch machen. Noch war nicht entschieden, wie lange wir in der Klinik bleiben würden. Wir sollten uns darüber Gedanken machen und wenn wir lieber noch bleiben wollen würden, wäre das kein Problem. Ich dürfe die Kleine sehen, wann ich wolle. Doch da wir uns für eine Obduktion entschieden hatten, war die Zeit ein wenig begrenzter.

Ich haderte mit mir. Wenn ich sie nochmal sehen würde, könnte ich mich dann nicht mehr losreißen? Würde es alles nur noch schlimmer machen? Kann ich das?

Es wurde Montag, meine Laborwerte waren in Ordnung und es stand uns frei wieder nach Hause zu gehen. Wir entschieden uns dazu am nächsten Tag abzureisen. Ich hatte mich dazu entschieden, Chloe noch ein letztes Mal zu sehen. Mein Freund entschied sich dagegen. Es war zu schwer für ihn. Er kümmerte sich lieber um einige organisatorische Dinge, solange er gerade funktionierte. Wir gingen zusammen von unserem Zimmer aus Richtung Kreissaal, vorbei an den Frühchen und an den Zimmern mit den anderen Müttern. Vorab hatten wir bereits eine Hebamme informiert, wir wurden bereits erwartet.

Mein Freund musste noch ein paar Unterschriften setzen, deshalb machten wir aus, dass er nach seinen To-Dos im Wartebereich vor dem Kreissaal sitzen würde bis ich mich von Chloe verabschiedet hätte. Ich betrat den Kreissaal und wurde von den Hebammen begrüßt. Es gab einen Raum, der extra für uns vorbereitet war. An der Tür hing ein kleiner Stern.

Ich betrat den Raum. Dort lag sie, wieder eingewickelt in strahlend warmen gelben Handtüchern, auf dem Bett. Die Hebamme sagte, ich dürfe mir alle Zeit der Welt nehmen, und ließ mich mit meiner Tochter allein. Ich ging zu ihr. Wieso um alles in der Welt ist uns das passiert? Ich weinte und nahm sie auf den Arm, setzte mich auf das Bett und redete mit ihr. Ich sagte ihr, wie schön sie ist, wie sehr ich sie vermisst habe, dass Papa sie auch vermisst und wie sehr wir sie liebten. Während ich sie wiegte, fing ich an ein Lied zu summen.

Die Zeit verging. Es klopfte und die Tür öffnete sich. Mein Freund kam rein, ruhig und überraschend gefasst. Er kam zu uns und streichelte Chloe. Er wollte sie doch noch einmal sehen, ein letztes Mal. „Die kleine Maus muss jetzt langsam gehen...“, sagte er ruhig und sah mich mitfühlend an. Ich nickte. Also drückte ich meinen kleinen Engel ein letztes Mal, küsste sie und legte sie vorsichtig auf das Bett. Mein Freund und ich verließen das Zimmer leise weinend. Das war das letzte Mal, dass ich meine Tochter gesehen habe. Was mir von ihr blieb ist mehr als andere haben und doch nicht genug. Eine Locke ihrer Haare, einen Fußabdruck, einen von zwei Stoffschmetterlingen, einen von zwei Perlengeln, meine Erinnerungen und die wundervollen Fotos, die ich mir regelmäßig ansehe, um sie nicht zu vergessen.

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