Elio ist unser Wunschkind.
Elios Vater und ich lernen uns im Juni 2020 kennen: Ein nie enden wollender Abend am Deich und zwei Seelen, die sich in der Frühsommernacht in Blicken und Worten so viel zu sagen haben. Zwei Monate später beschließen wir bereit für eine gemeinsame Familie zu sein. Wir sind beide Anfang 30, wissen, was wir aneinander schätzen und lieben und spüren, dass wir auch völlig unabhängig von unseren momentan von Liebe und Endorphinen gefluteten Gefühlen ein gutes Elternteam werden würden.
Worauf sollten wir noch warten?
Mir wurde mit Anfang zwanzig das PCO- Syndrom diagnostiziert. Es ist nicht klar, wie lang unsere Kinderwunschreise werden wird und ob ich überhaupt schwanger werden kann oder sich unser Wunsch vielleicht über Adoptiv- oder Pflegekinder erfüllen wird.
Bereits im zweiten Zyklus nach der Formulierung unseres Wunsches ans Universum tritt Elio über die Schwelle hinein in unser Leben. Wir sind überrascht und unfassbar glücklich! Fortan stellt unser Kleiner unser Leben gehörig auf den Kopf. Wir ziehen zusammen, erleben gemeinsam die Gefühlswogen einer Schwangerschaft, können in manchen Momenten unser Glück kaum fassen und sind in anderen heillos überfordert von unseren Gedanken, Gefühlen und Sorgen. „Gut, dass wir zehn Monate Zeit haben, uns zu sortieren und zusammen in Liebe und Partnerschaft in die Rollen als werdende Eltern einzufinden“, denken wir.
Dann beginnt es. Obwohl sich der Kleine fortlaufend gut entwickelt habe ich ab der 15ten Schwangerschaftswoche immer wiederkehrende, mal stärkere, mal schwächere Blutungen, deren Ursache nicht geklärt werden kann. Ich soll mich schonen. Ich liebe es Rad zu fahren, aktiv zu sein, Sport zu machen, Menschen zu treffen. Meinem Kleinen zu Liebe würde ich alles tun, doch nichts scheint zu helfen. Anfang des Jahres 2021 dann die Erleichterung: Die Blutungen werden weniger. Stattdessen bemerke ich vermehrten Ausfluss, der mich verunsichert. Doch ich habe beschlossen, endlich in der Freude über die Schwangerschaft anzukommen, mich nicht mehr ständig zu sorgen, schließlich sagen alle Ärzte und Ärztinnen mit immer wieder das Gleiche: „Dem Kleinen geht es prima!“
Und ich beginne ihn endlich zu spüren!
Am 15. Januar geht es mir nicht gut. Ich liege verunsichert auf dem Sofa. Noch immer habe ich diesen seltsamen Ausfluss und außerdem Bauchschmerzen. Ich schreibe meiner Hebamme, bitte Sie um ein Telefonat am Folgetag, doch dazu soll es nicht mehr kommen.
Nachts wache ich vor Schmerzen auf. „Das ist nicht normal!“ – schreit eine alarmierte Stimme in meinem Kopf. Ich gehe auf Toilette. Etwas fühlt sich seltsam an. Dann sehe ich es, die Nabelschnur - blau und grau hat sich auf den Weg durch den Geburtskanal nach draußen gemacht. Zittrig wecke ich meinen Partner und bitte ihn den Rettungswagen zu rufen. Mein Partner darf aus Infektionsschutzgründen nicht mitfahren und nicht nachkommen. Alles passiert wie in Trance.
Im Klinikum sagt man mir zunächst ich solle mir keine Sorgen machen, es sei sicher nur ein Blutgerinnsel, das ich gesehen habe. Aber meine Seele weint. Sie hat es schon begriffen, ohne, dass es jemand aussprechen muss. Ich werde diese Liebe meines Lebens nie richtig kennen lernen dürfen. Nur entfernt erreicht mich die Diagnose, die die beiden Assistenzärzte nach einem vielsagenden Blick aussprechen. Ich hatte einen Blasenriss und daran anschließend einen Nabelschnurvorfall. Der Kleine lebt, sein Kämpferherz schlägt, aber er hat kaum noch Fruchtwasser und ich bin erst in der 22ten
Schwangerschaftswoche, daher „sehe es sehr schlecht aus“. Zudem habe ich bereits Entzündungswerte im Blut. Nicht nur das Leben des Kleinen, sondern auch meins sei auf dem Spiel. Alles egal – denke ich. Wenn er geht, dann will ich nicht hierbleiben.
Ich weine in der Nacht allein auf meinem Zimmer, während wir auf die Schicht des leitenden Oberarztes und seine Entscheidung am kommenden Tag warten. Ich habe Hunger und Durst, traue mich aber nicht viel zu trinken oder etwas zu essen, schließlich könnten bei einem Toilettengang Bakterien an der Nabelschnur zu meinem Kleinen hinauf wandern. Der Tag kommt und mit ihm ein sehr einfühlsamer Oberarzt. Er sieht müde aus. Wie schwer muss es sein, derlei Nachrichten zu überbringen? – denke ich. Er rät zum medikamentösen Einleiten der Geburt und teilt mir mit, dass er eine Aufnahme meines Partners als seelischen Beistand veranlasst hat. Ich verstehe die Aussichtslosigkeit unserer Situation – und dennoch, sein Herz schlägt doch noch. Wie soll ich mich gegen ihn entscheiden?
Elios Vater kommt umgehend. Er weint in meinem Arm. Fortan liegen wir nebeneinander, die Betten dicht beieinanderstehend und halten Händchen wie ein altes Ehepaar. Er ist dabei, als ich das erste geburtsvorbereitende Medikament nehme. Am Tag drauf soll ich weitere Medikamente bekommen, die die Geburt dann einleiten. Doch soweit kommt es nicht. Ich glaube Elio hat gespürt, dass ich es ohne seinen Vater nicht schaffe, dass ich ihn nicht gehen lassen kann. Kaum ist sein Vater da, kann ich beginnen loszulassen. Noch am gleichen Nachmittag setzen die Wehen ein und am 16.01. früh morgens um 1:33 Uhr halten wir unseren Kleinen im Arm und genießen Elternglück und Stolz. Es ist seltsam. In diesem Moment spüre ich überhaupt keine Trauer – manchmal wünsche ich mich heute in diesen Moment zurück. Elio ist still und warm. Die Nabelschnur hat dem Druck im Geburtskanal nicht mehr standhalten können und so ist er noch in meinem Bauch verstorben. Und er ist so perfekt. Die Hebamme entdeckt unseren Kleinen liebevoll mit uns, seine winzigen Hände, seine Öhrchen und seine süße Stupsnase, die er wohl von seinem Vater bekommen hat.
Dann muss ich in den OP und Elio bleibt bei seinem Vater, der ihn zusammen mit der Hebamme wäscht, wiegt und misst und ein paar erste Bilder macht. Die OP geht schnell vorbei. Ich bin noch im Delirium, als ich ins Zimmer zurück gebracht werde. Mein Partner gibt mir Elio auf den Arm und ich habe nurnoch Augen für unseren Kleinen, bekomme kaum mit, dass die Ärzt*innen und die Hebamme nochmal vorbeikommen, kann mich später kaum an das Gesagte erinnern. Schließlich sind wir zu dritt. Mein Partner schläft erschöpft ein und ich betrachte noch eine Weile voller Liebe und Trauer unseren winzigen Sohn, spüre seine Nähe und seine 355 Gramm auf meinem Arm, bis auch ich schließlich mit ihm auf dem Arm einschlafe.
Am folgenden Tag dann kommt Ginny. Sie ist sternenkinder fotograf. Die Klinik hatte uns in der Nacht noch angeboten, bei den sternenkinder fotografen der Initiative „Dein Sternenkind“ anzurufen. Ich war skeptisch: “Wofür sollte ich Bilder von unserem Kleinen haben wollen? Wer würde die sehen wollen? Würde ich sie mir überhaupt nochmal ansehen können?“ Doch mir ist in diesem Moment alles egal und mein Partner entscheidet für uns beide.
Heute bin ich unfassbar dankbar für diese sternenkinder fotos. Eines steht auf meinem Schreibtisch und schaut mich gerade an. Ein anderes haben wir mit den Geburtskarten an unsere Freund*innen und Familien versendet. Alle weiteren sternenkinder fotos sollen ihren Weg in ein Erinnerungsalbum und an Erinnerungsorte finden. Auch bin ich dankbar für das Netz aus Freund*innen, unseren Familien, Initiativen, Institutionen und anderen Menschen, dass seinen Rettungsschirm seither achtsam um uns herum aufspannt.
Nicht zuletzt bin ich aber dankbar für alles was du, mein kleiner Elio, in die Welt deines Vaters und mir gebracht hast. Wir sind Dank dir nun Eltern. Wir haben Dank dir so unendlich viel Liebe spüren gelernt. Du hast deinen Vater und mich noch so viel näher zusammengebracht und jeden noch so leisen und kleinen Zweifel ausgewischt.
Danke, du kleines Wunder. In ewiger Liebe, deine Mama
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