20.04.2019 - Ich werde entlassen

20.04.2019 - Ich werde entlassen


Ich werde entlassen.
Ich freue mich auf Zuhause. Und habe Angst.

Wieder in die Wohnung zurückzukehren, in der alles so eskaliert ist.

Angst vor der Wucht der Gefühle, die da auf mich wartet.

Wie soll ich da überhaupt hochkommen? Wir wohnen im dritten Stock ohne Aufzug. Ich komme nur in winzig kleinen Schritten vorwärts. Ich habe keine Idee, wie ich überhaupt Treppen laufen soll.
Die Wunde ist unverändert extrem schmerzhaft.

Am Wochenende sind die Entlassungen um 9 Uhr, spätestens um 10 Uhr, sagte man mir.

Ich habe mich sicherheitshalber mit der Bestatterin auf 11 Uhr verabredet.

Wirklich rund lief in dieser Woche hier im Krankenhaus nämlich nichts.

Ich schreibe ein langes Feedback über meinen Aufenthalt.

Lene wird mir gebracht.

Es ist wieder eine neue Krankenschwester da.

Ich kann Lene nicht selbst aus dem Korb nehmen. Die Wunde lässt es nicht zu.

Ich bitte sie, mir Lene zu geben.

Voller Ekel tut sie es.

Ihre Arme sind weit ausgestreckt, ihr Gesicht verzogen. Sie sieht sie nicht an.

Ich dränge auf einen Rollstuhl. Niemals kann ich bis zum Ausgang laufen.

Jemand bringt mir einen ohne Fußstützen.
Ich muss beim Weg raus meine Füße in der Luft halten.

Was wegen der Wunde ebenfalls kaum geht.

Eigentlich bin ich schon erschöpft als wir am Ausgang ankommen.

Um 10 Uhr bin ich immer noch nicht entlassen.

Ich frage wiederholt nach.

Mache deutlich, dass ich um 11 gehen muss.

Um halb 11 kommt eine Ärztin.

Sie hat Medikamente dabei. Überreicht mir den Arztbrief.

Dort steht der Medikamentenplan drin.

Die Medikamente, die sie mir mitgibt, haben einen anderen Namen.

Nichts stimmt überein. Sie erklärt mir alles.
Bis sie den Mund wieder zumacht, habe ich schon alles wieder vergessen.

Sie händigt mir meinen Mutterpass aus.
Wo kommt der denn her?
Ich bin überrascht.

Zu Geburtsbeginn lag er auf der Kommode im Flur.

Mein Mann hatte nur meinen Geldbeutel mitgenommen wegen der Versichertenkarte.

Komisch.

Meine Tempos fallen auf den Boden. Ich komme nicht dran.

Ich bitte die Ärztin, sie mir aufzuheben.

Genau in dem Moment läuft Lene ein bisschen rote Flüssigkeit aus der Nase.

Oh Gott! Babyblut! denke ich.

Überlege eine Sekunde, sie zu bitten, es wegzuwischen.

Komme sofort zu mir und mache es selbst.

Ich nehme ein Tempo und tupfe es ab.

Es fühlt sich sehr fürsorglich an.
Ganz mütterlich.

Da konnte ich doch noch in einer Sache für sie sorgen.

Sie ist keine 5 Minuten weg, da kommt die Bestatterin.

Sie hat einen Sarg dabei.
Wir müssen Lene umbetten.

Dazu muss die blaue Decke entfernt werden.

Ob ich sie in den Sarg legen will?

Ich traue mich nicht.

Sie geht sehr behutsam mit Lene um.

Und mit mir.

Die Decke legen wir auf meine Tasche.

Viel Zeit ist nicht, sie hat ungünstig geparkt, sagt sie.

Die Krankenschwester wartet vor der Tür.

Ich setze mich in den Rollstuhl.

Den Sarg nehme ich auf meinen Schoß.

Die Krankenschwester schiebt den Rollstuhl, die Bestatterin trägt meine Tasche.

Wir verlassen das Krankenhaus durch den Haupteingang.

„Sehen Sie, es hat niemand geguckt!“ sagt die Bestatterin zur Krankenschwester.

Es ist trotzdem nicht üblich und das Haus sollte durch den Keller verlassen werden, entgegnet sie.

Das Auto ist ein Bus.

Ob ich Lene während der Fahrt im Sarg auf den Schoß nehmen will?

Das schaffe ich nicht. Der Weg zum Auto war schon sehr anstrengend.

Ich komme kaum auf den Beifahrersitz. Jede Bewegung tut so unglaublich weh.

Während der Fahrt unterhalten wir uns.

Ich erzähle von Blümchen.

Sie sagt, dass Kinder ganz anders trauern.
Wie in Pfützen springen, sagt sie. Rein in die Trauer, raus aus der Trauer.

Ich berichte, dass Blümchen erzählt hat, dass sie mit dem Papa ein Buch über den Tod angeschaut hat. In dem steht, dass manche Menschen so viel weinen, dass sie Eimer füllen, während andere ihre Tränen im Bauch speichern.
Dass Blümchen sagte: „Und der Papa macht den Kopf nach unten, wenn er traurig ist“.

Wie beeindruckt ich von ihrer Beobachtungsgabe bin.

Sie sagt, dass sie toll findet, dass ich Lene begleite.

Für mich stand das nicht zur Debatte. Ich will wissen, wo sie sein wird.

Ein lebendes Kind würde ich auch nie einer Fremden mitgeben.

Bestattungsinstitute kenne ich bis dahin nur aus dem Fernsehen.

Da sind die im Keller, Leichen werden nur zum Schminken rausgeholt.

Es gibt große Räume mit Särgen zur Ansicht und Bestatter sind alte, dicke, kalte Männer mit Bart.

Hier ist es ganz anders.

Es ist ebenerdig. Ein Bungalow.

Es ist ganz warm.

Als ob man nach Hause kommt. Gemütlich.

Hier ist sie gut aufgehoben, meine kleine Tochter.

Die Bestatterin stellt den Sarg auf ein Sofa. Ich kann mich daneben setzen.

Sie bietet mir etwas zu trinken an und ich kann mich vorerst von Lene verabschieden.

Am Dienstag will ich sie nochmal sehen.

Sie ruft mir ein Taxi.

Die Fahrt ist ein Albtraum.

Der Fahrer redet und redet. Über die banalsten Dinge.

Ich kann das kaum ertragen.

Es interessiert mich nicht.

Ich starre aus dem Fenster und ignoriere ihn.

Ich finde das so unsensibel.

Er hat mich gerade in einem Bestattungsinstitut abgeholt!

Als er eine Kurve zu eng nimmt, nimmt er einen hohen Bordstein mit.
Ich schreie auf. Es fühlt sich an, als ob die Wunde wieder aufreißt.

Als wir zuhause anhalten, steige ich aus dem Auto aus.

Das Wetter ist schön, viele Nachbarn sind draußen.
Ich bemerke gespannte und freudige Blicke. Und wie sie betreten wegschauen als ich ohne eine weitere Autotür zu öffnen, zur Haustür laufe.

Ich klingle. Mein Mann kommt mir mit einem Stuhl entgegen, damit ich jederzeit Pause machen kann.

Die Angst, ohne mein Baby einem Nachbar aus dem Haus zu begegnen, treibt mich dann aber doch ohne Pause nach oben.

Das war so anstrengend, dass ich fix und fertig bin.

Ich setze mich aufs Bett und versuche mich zu orientieren.

Alles ist anders.

Wie viele Stunden habe ich hier verbracht, mich auf die Geburt und Mutterschaft vorbereitet, mir ausgemalt, wie alles sein wird und jetzt sitze ich hier ohne mein Baby.

Blümchen hört Bibi Blocksberg im Wohnzimmer.

Ich ertrage das nicht.

Es ist viel zu früh für mich, mit dem Leben weiterzumachen.

Ich will Ruhe.
Mich ins Bett legen und nie mehr aufstehen.

Alles ist so unwirklich.

Wie eine Zeitschleife.

Eben noch in freudiger Erwartung, jetzt ist alles anders.

Dazwischen eine flippende Dreijährige.

Es fühlt sich an wie Folter.

Ich stelle meine Tasche vor den Schrank.

Die Decke, in die Lene gewickelt war, lege ich auf den Stuhl.

Unberührt liegt sie dort bis heute.

Jörn funktioniert.

Aber etwas stimmt nicht. Ich mache mir Sorgen.

Er ist einen bisschen zu drüber.

So kenne ich ihn schon.

Da entwuchs eine schlimme Phase daraus.

Das macht mir Angst.

Die Hebamme kommt. Mir war wichtig, dass sich jemand meine Wunde ansieht nach dem Aufstieg.

Alles ok.

Nur Jörn fällt ihr auf.

Wir sollten schnellstmöglich zu dritt reden, meint sie.

Wir machen etwas für den übernächsten Tag aus.

Am Abend bringt Lisa uns Essen vorbei.

Ich kann nichts essen, aber es tut so gut zu merken, auch weiterhin versorgt zu sein.

Später schreibt sie noch: „Wie unendlich gut, dass sie dich an ihrer Seite hat.“
Sie meint Blümchen.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass das zu mir vorgedrungen ist und war beim erneuten Lesen unserer Nachrichten ganz überrascht.

Ich war an einem ganz anderen Punkt.

Ganz, ganz woanders.

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