Erik ist unser zweites Sternenkind.
Sein großer Bruder war so krank, dass ich einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließ. Diese Entscheidung fiel mir sehr schwer. Schlimm war auch, dass ich nicht Abschied nehmen konnte. Zwar ließen wir unser Kind beerdigen, aber ich habe es nie gesehen. Alle sagten: „Tun Sie sich den Anblick bitte nicht an! Das ist wirklich nicht schön.“
Heute glaube ich, dass ich stark genug gewesen wäre. Aber weil mir sogar Fachleute abrieten, mir die sterblichen Überreste meines Sohnes anzusehen, kam ich ins Zweifeln. Heute weiß ich, dass selbst die Pathologen nicht den Schneid hatten, mit einer trauernden Mutter diesen Weg zu gehen.
Erik war unser Folgewunder. Seine Geschichte beginnt wie die vieler Sternenkinder: „Es war immer alles in Ordnung. Bis eines Tages...“
In der 29. Schwangerschaftswoche hatte ich einen Routineultraschall. Leider mussten meine Frauenärztin und ich feststellen, dass Erik nicht gewachsen war – seit mindestens zwei Wochen.
Noch am selben Tag hatte ich einen Notkaiserschnitt. Es war die einzige Chance, Eriks Leben zu retten.
Erik kam mit einem Geburtsgewicht von 665 Gramm zur Welt. Die Kinderärzte machten meinem Mann und mir Hoffnung, aber ich war ernüchtert. Ich wusste, dass Erik mit den schlechtesten Voraussetzungen ins Leben starten musste.
Nach einer verheulten Nacht im Krankenhaus wurde mir klar, dass ich die Stärke, die ich durch mein erstes Sternenkind entwickelt hatte, jetzt nutzen musste, um für Erik da zu sein – ganz egal, wie kurz sein Leben sein würde.
Auf der Frühchenstation kümmerten sich Eriks Kinderärzte und Krankenschwestern großartig um ihn. Schnell wussten wir, dass Erik in den besten Händen war. Und wenn er es hier nicht schaffen würde – wo sonst?
Ich wollte alles für meinen Sohn tun. Auf alles vorbereitet sein, nur damit er alles hatte, was er brauchte. Es mag absurd klingen, aber während ich Muttermilch abpumpte lag ich Eriks Ärzten in den Ohren, dass ich eine Nottaufe für ihn wollte. Aber sie sagten, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen sei.
Mein Mann und ich versuchten, so viel wie möglich für Erik da zu sein. Aber es ist schwierig, seinen Erwartungen an sich selbst gerecht zu werden, wenn man für sein Kind nicht mehr tun kann, als eine Hand in einen Brutkasten zu stecken. „Das tut mir so in der Seele weh, ihn so verkabelt zu sehen“, stöhnte mein Mann mehr als einmal. „Das arme Kind!“ Noch dazu ist es auf einer Frühchenstation so warm, dass ich glaubte, jeden Moment umzukippen. Und Privatsphäre gibt es dort nicht. Man ist zusammengepfercht mit anderen Eltern, die auch mit dem Rücken zur Wand stehen – sprichwörtlich.
Aber damit hatte ich mich nach vier Tagen arrangiert und Erik Märchen vorgelesen – im Rollstuhl sitzend, weil ich nach der Operation noch nicht stehen konnte.
Eriks Zustand verschlechterte sich. Aber seine Ärzte glaubten, dass sie das Ruder noch herumreißen könnten. Dafür bin ich ihnen ewig dankbar. Aber auch sie empfahlen, dass nun der Punkt erreicht war, an dem wir Erik Nottaufen sollten.
Eriks Taufe wurde die schönste, auf der ich je gewesen bin. Sein Taufkleid war ein Geschenk von guten Näherinnen aus einem Seniorenheim und sein Pfarrer war ein netter Mann, der Rufbereitschaft hatte. Eriks Krankenschwester wurde seine Taufzeugin und die anderen Frühchen seine einzigen Taufgäste.
Ich glaube, falls es einen Gott gibt, dann war er in diesem Moment da. Und Eriks Taufspruch, den ich ausgewählt hatte, schien mir in dem Augenblick sehr passend. „Der Herr hat seinen Engeln befohlen dich zu behüten und über dich zu wachen auf allen deinen Wegen.“
Am nächsten Tag war Eriks Zustand stabil. Aber in der Nacht brauchte er eine Notoperation am Herzen.
Die Operation verlief erfolgreich. Doch kurz darauf wurde klar, dass Erik eine massive Hirnblutung davongetragen hatte. Die hohen Beatmungsdrücke, die vielen Medikamente, Eriks versagende Nieren und die Wassereinlagerungen – es war alles eine zu große Belastung für den kleinen Körper gewesen.
Die Ärzte empfahlen, Erik jetzt gehen zu lassen. Und auch für seinen Vater und mich war die Grenze erreicht. Erik sollte nicht leiden – nicht für ein Leben, dass nicht mehr lebenswert werden konnte.
Fünf Tage nach Eriks Geburt ließen wir ihn in meinen Armen einschlafen. Mir war egal, wie groß unser Schmerz war: Wir waren für unser Kind da. Und es war dar einzige Moment, in dem wir mit Erik alleine waren. Nur umgeben von den anderen Frühchen – kleinen Seelen, die etwas mehr Glück gehabt hatten als er.
Als es überstanden war, half uns eine nette Krankenschwester Erik zu baden und ihm etwas hübsches anzuziehen. Dieses Mal durfte ich Abschied nehmen.
Am nächsten Morgen fragte mich die Krankenschwester, ob sie einen Fotografen für Sternenkinder kommen lassen solle. Ich sagte sofort ja. Aus Erfahrung wusste ich schließlich, dass mir nur wenige Erinnerungsstücke an meinen Sohn bleiben würden.
Als mein Mann und ich die Fotografin Elke Schwarzinger das erste Mal trafen, machte sie bereits Portraitaufnahmen von Erik.
Ich war beeindruckt, wie ungezwungen und liebevoll sie mit Erik umging – als wäre er ein Baby wie alle anderen. Und ich mochte auf Anhieb ihren fröhlichen süddeutschen Dialekt. Eigentlich war Frau Schwarzinger zum Urlaub bei uns im Rheinland, aber als über dein-sternenkind.eu der Alarm reinkam, dass verwaiste Eltern einen Fotografen brauchen, war sie sofort zu uns gekommen.
„So ein hübscher ist er“, sagte sie, während sie Erik für ein Foto in Position legte, und ich musste sofort wieder weinen. Es war das erste Mal, dass jemand etwas nettes über mein Baby sagte.
Für meinen Mann war das Fotoshooting schwierig.
In unserer Gesellschaft wird der Tod gerne weggesperrt. Darf man überhaupt von einem toten Baby Fotos machen?
Ich glaube, auch die sterbliche Hülle eines Menschen zu wertschätzen, sie zu pflegen und in Erinnerung zu bewahren, bis man sie ins Grab gibt – das kann nicht falsch sein!
Skeptisch wurde ich nur, als Frau Schwarzinger uns Erik nochmal in die Arme legte. Ich wollte Bilder von meinem Kind, damit ich nicht vergesse, wie Erik ausgesehen hat. Aber gestellte Fotos? Sollte man so weit gehen?
Heute ist unser Foto zu Dritt mein Lieblingsbild. Es ist das einzige Familienfoto, dass wir mit Erik haben.
Manche Besucher mag es erschrecken, dass wir im Wohnzimmer ein Foto von einer Babyleiche haben. Aber ich sehe auf dem Bild nur mein Kind.
Wenn ich aus meinem brennenden Haus nur eine einzige Sache retten könnte, wäre es unser Familienfoto mit Erik.
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